Der 12. Tag unserer Exkursion brach an, bevor der 11.
Tag zu Ende gegangen war. Während einige in unserer Gemeinschaftsküche
Karten spielend in den neuen Tag kamen, fand sich eine andere Gruppe
um Mitternacht auf den roten Klippen hinter der Stromstation unweit
unseres "Wohnbunkers". Von diesen Klippen hatte man einen fantastischen
Blick über den Fjord und seine Öffnung zum Barentsmeer. Als dunkler
Schemen hob sich vor der untergehenden Sonne der mittlerweile von
allen besuchte Vogelfelsen ab.

In diese Richtung blickte die Klippentruppe mit Ferngläsern,
Feldstechern oder zusammengekniffenen Augen. Vor dem Vogelfelsen,
der gut drei Kilometer von den Klippen entfernt von der Brandung
umtost wurde, waren seltsame Erscheinungen zu sehen. Was zunächst
wie ein paar Felsen erschien, nahm nach längerer Betrachtung die
Form eines Minkewales, nein, sogar einer Walschule an, die anscheinend
die Position haltend an der Oberfläche das Wasser durchpflügte.
Immer wieder brach ein graues Etwas durch die Wasseroberfläche,
mehr oder weniger an der gleichen Position. Als der 6. August eine
dreiviertel Stunde alt war, hatte die Walschule, die nach wie vor
an der gleichen Stelle erschien, berechtigte Zweifel an ihrer Existenz
aufgeworfen. Ob nun Wale oder Felsen - die Aufmerksamkeit der Studenten
war der Erscheinung gewiß. Der Fuchs, der weit unter den Studenten
das Fjordufer absuchte, lugte argwöhnisch an den Klippen hinauf
und zog es schließlich vor, einen Rückzug zu machen. Die Studenten
folgten bald seinem Beispiel.
Der Tag nach der polaren Nacht präsentierte sich mit
stahlblauen Himmel und weißen, dahintreibenden Wolken. Nach dem
Frühstück begann auch schon das Programm. Ein Teil der Studenten
ging mit Prof. Spindler in die Labors, um die Plankton- und Dredgen-Proben
der letzten Tage zu bestimmen. Einige andere schlossen sich zu einer
botanischen Exkursion mit Prof. Kappen und Mark Schlensog zusammen.
Ein fünfköpfiger Trupp machte sich mit Dr. Piepenburg auf den Weg
zu dem kleinen Boot, des wohl einzigen noch ansässigen Fischers,
das noch für zwei weitere Fahrten an diesem Tag gemietet war.

Die Bootsfahrer wollten in erster Linie Dredgen-Proben
nehmen. Die letzten Dredge-Versuche waren größtenteils Schläge ins
Wasser: die Dredge war zu leicht und daher unbrauchbar. Der Fischer
hatte daraufhin eine alte, rostige Dredge aus seinem Schuppen hervorgekramt.
Mit dieser sollte es heute noch einmal versucht werden, Benthosproben
zu nehmen. Als sich die Bootsfahrer am Pier sammelten fehlte die
Dredge und konnte auch nicht mehr aufgespürt werden - ein russisches
Phänomen, das niemanden mehr in Aufregung versetzte. Die erste Ausfahrt
verlief durch den Einsatz der zu leichten Dredge dementsprechend
enttäuschend; dafür ging es noch einmal hinaus zum Vogelfelsen.
Nach dem Mittag tauchte die schwere Dredge wieder auf (einer der
russischen Fahrer hatte das Gerät am Vortag wieder in den Schuppen
des Fischers geschleppt).
Die
Laborgruppe bestimmte hauptsächlich Planktonproben, der letzten
Ausfahrten; neues benthisches Material erhoffte man sich von den
letzten beiden Ausfahrten. Doch die Dredge hatte auf der ersten
Ausfahrt wenig an die Oberfläche befördert. Lediglich die Reste
einer Rippenqualle konnten im Labor eingehender untersucht werden.
Erst die letzte Ausfahrt brachte endlich eine anständige Benthosprobe
an die Oberfläche und, so daß im Labor noch einmal die Binokkulare
"abgestaubt" werden konnten.
Die botanische Gruppe um Prof. Kappen wanderte nach
dem Frühstück am Ufer des Fjordes entlang. Man wollte dem Fjord
folgen, bis man die ersten Polarbirkenhänge erreichte. Der Weg gestaltete
sich bis zum vorgesehen Ziel als unerwartet weit. Da man schließlich
auch die bewältigte Strecke zurück marschieren mußte, wanderten
die Botaniker bis 15 Uhr am Fjord entlang, ohne die Polarbirkenhänge
zu erreichen. Neue botanische Funde brachte die Wanderung nicht
hervor; bemerkenswert war allerdings die Tatsache, daß die Gruppe
trotz des Nicht-Erreichens der Birkenzone mit einem Schwung saftiger
Birkenpilze wieder in Dalnie Zelentsy eintrudelte.
Eben
diese Birkenpilze gingen schließlich in die Komposition des Abendessens
ein: die liebevoll geschnittenen Pilze wurden unter einem Berg Spaghetti
gerührt, so daß neben dem Pilzgenuß auch ausreichend Kohlenhydrate
zur Verfügung standen. (Ob die Gesundheitsbeschwerden am nächsten
Tag auf die Pilznudeln zurückzuführen war, konnte nicht eindeutig
geklärt werden.)
Nach dem Abendessen versammelte sich die ganze Truppe
für die letzten beiden noch ausstehenden Referate in der verlassenen
Schule. Während in der Schule den Vorträgen gelauscht wurde, herrschte
in der russischen Kaserne am Rande des Dorfes wohl reges Treiben,
schließlich war für 22 Uhr das Revanche-Fußballspiel der Soldaten
gegen die Kieler Studenten angesetzt. Zwar fehlte der leitende Offizier,
aber das konnte dem russischen Team nur gut tun. Um Punkt 22 Uhr
trafen die ersten Kieler im Fußballdress (T-Shirt und Gummistiefel
oder Wanderbotten) im Stadion von Dalnie Zelentsy ein, welches nicht
mehr war als ein ungemähtes Stück Tundra, mit zwei kleinen Toren
und einer überwucherten rostigen Stacheldrahtrolle im äußeren Mittelfeld.
   
Das Spiel war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
Erstens fanden sich mehr Zuschauer ein, als man dachte, daß es Anwohner
im Dorf gab. Zweitens stand im russischen Tor ein absolut furchtloser
und nüchterner Soldat (ganz im Gegensatz zu den narkotisierten Keepern
des ersten Spiels). Drittens entwickelte Prof. Kappen ein ungeahntes
sportliches Talent als Zeitnehmer und quasi Schiedsrichter. Es wurden
zwei Halbzeiten à 25 Minuten gespielt; die Nachspielzeiten der beiden
Halbzeiten dehnten die gesamte Spieldauer dann annähernd auf dem
FIFA-Reglement entsprechende 90 Minuten aus. Das Kieler Team umfaßte
10 Spieler von denen jeweils 5 inklusive Torwart auf dem Platz standen.
Prof. Spindler war - trotz eines unangenehmen Magengrimmens - eine
Bank im Tor. Auch der russische Torwart glänzte mit seinem Wagemut,
mußte sich jedoch ob der miserablen Abwehrleistung seiner Vormänner,
die nichts gegen die Kieler Sturmspitzen Dieter "Loddar" Piepenburg
und Marcus Engelbrecht ausrichten konnten, fünf Mal geschlagen geben.
Das Soldatenteam konnte mit einem gezielten Weitschuß in der Nachspielzeit
der zweiten Hälfte den Ehrentreffer markieren. Trotzdem besiegelte
der 5:1 Sieg das Schicksal der russischen Revanche - ein zweites
Mal kehrten die Soldaten geschlagen und traurig in die Kaserne zurück.
Auf das siegreiche Kieler Team wartete die schon seit Mittag aufgeheizte
Banja, eine Mischung aus Sauna und Badehaus im kleinen Stile (ein
kleiner Bretterverhau am Haus des Fischers). Während die Fußballer
in der Banja schwitzten, entschlossen sich einige unerschrockene
Fans, die Badequalitäten des Barentsmeers auszunutzen und hüpften
in die polaren Fluten.
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